Symbolische Entwicklung

Fehlende Bildteile erkennen [ab 30-36 Monaten]

Wenn das Kind im Alter von 18-24 Monaten erste Vorstellungen darüber entwickelt hat, wie die Dinge sein sollten, wird es spontan auf Veränderungen des Bilderbuches als Ding hinweisen, bspw. auf einen Riss oder eine verbogene Ecke des Papiers. In diesem Alter kann es aber noch nicht erkennen, wenn die Abbildung selbst unvollständig ist. Um einen Gegenstand als defekt zu erfassen, muss dieser innerlich mit der Vorstellung des intakten verglichen werden. Ebenso muss beim Erkennen eines Bildes die Vorstellung eines entsprechenden realen Gegenstandes aufgebaut werden. Beim Erkennen von fehlenden Bildteilen, bspw. ein fehlendes Rad bei einem gemalten Auto, sind diese beiden Prozesse miteinander verbunden: sobald das Auto als Abbildung eines realen Autos erkannt und die Vorstellung eines vollständigen Autos aufgebaut wird, kann das Kind das fehlende Rad als "ein zu malendes" erfassen.



Leonie 33 Mte

Ich habe ein Auto gezeichnet, bei dem die Räder fehlen, und frage nun Leonie "und wie tut es denn fahren?". Sie macht eine Geste der sich drehenden Räder, und ich präzisiere "was fehlt noch unten?". Sie hält den Malstift im Erwachsenengriff in der rechten Hand und schliesst die Auslassungen bei der Zeichnung durch je einen Strich. Dazu sagt sie eine mir unverständliche Aeusserung ("sniek"); ich kommentiere "die Räder.. genau". Dann fordere ich sie auf "und jetzt machen wir noch die Strasse", worauf Leonie spontan eine Linie dem unteren Papierrand entlang malt.



Remo 38 Mte

Remo ist dabei, bei einem von mir gemalten Auto die Räder zu ergänzen. Er hält den Malstift im Faustgriff in der rechten Hand und malt eine Art Strich. Ich kommentiere "ja, so ist gut" und frage dann "und die Strasse?". Remo beendet seinen Strich, schaut auf die Zeichnung und antwortet "nei, nei de tut jetz ohni-ohni Strass fahre" (nein, der tut jetzt ohne Strasse fahren). Gleichzeitig wechselt er den Stift in die linke Hand. Ich wiederhole "ah, der tut ohne Strasse...". Remo malt zwei senkrechte Linien und kommentiert "Leitere" (Leiter). Ich sage "ah, das ist gut, dann kann er dort hinaufklettern". Remo bestätigt "ja, abe-da is aber e gföhrlichi Leitere" (ja, das ist aber eine gefährliche Leiter). Ich frage nach "ehrlich?", und er wiederholt "gföhrlichi", nickt mit dem Kopf und legt den Stift hin.
Wir haben diese Szene so interpretiert, dass Remo nicht genau wusste, wie er die Strasse malen sollte und deshalb sagte, das Auto fahre ohne. Dann stellte er sich dies vor: ein Auto ohne Strasse ist ein Auto in der Luft, d.h. es braucht eine Leiter, um es zu erreichen.
Hier wird deutlich, wie über das Handeln und das Sprechen neue Vorstellungsbilder aufgebaut und ihrerseits wieder kommentiert werden können.



Lynn 38 Mte

Wir spielen Schule, und ich habe Lynn gefragt, ob sie mir helfen könne, bei einem von mir gemalten Auto die Räder zu ergänzen. Sie hält den Filzstift im Erwachsenengriff in der rechten Hand und malt das erste Rad mit zirkulären Kritzeleien aus. Dann sagt sie "so is guet" (so ist gut), wendet sich dem hinteren Rad zu, kommentiert "und hine au" (und hinten auch) und malt auch dieses Rad. Ich frage "und die Strasse?"; Lynn lehnt sich etwas zurück, wiederholt "d' Strass?" und ergänzt "hani so gmacht" (habe ich schon gemacht), wobei sie mich direkt anschaut. Ich wiederhole "hast du schon gemacht"; sie nickt, und während ich die Zeichnung wieder zu mir nehme, frage ich "meinst du, dass ich das so abgeben kann, der Lehrerin?"; sie antwortet "ja". Wir widmen uns beide unseren Zeichnungen, und ich murmle etwas unverständliches; Lynn macht einen Strich, schaut kurz auf und erinnert mich an unser Thema "Ufgabe, gäll" (Aufgaben, gell). Dann rückt sie sich demonstrativ zurecht, stützt den Kopf auf den Ellbogen und konzentriert sich auf ihr Blatt Papier.Interessant ist hier, wie Lynn auf meine Frage nach der Strasse reagiert. Sicher hat sie die Vorstellung einer Strasse, scheint jedoch wie Remo nicht genau zu wissen, wie diese realisiert werden könnte. Während Remo sagt, das Auto fahre ohne Strasse, löst Lynn das Problem, indem sie behauptet, sie hätte die Strasse schon gemacht. Natürlich weiss sie, dass dies nicht stimmt; im Rahmen unseres Spiels ist es aber durchaus legitim, dass sie sich das vorstellt, d.h. tut als ob es so wäre. In beiden Szenen zeigt sich damit sehr eindrücklich die Bedeutung der Sprache für die spielerische Lösung von Konfliktsituationen.