Sprachliche Entwicklung

Mehrwortsätze [ab 24-30 Monaten]

In den ersten zwei Lebensjahren ist das Kind ganz damit beschäftigt, erste Beziehungen zwischen sich und den anderen Personen sowie zwischen sich und den Dingen aufzubauen. Durch die fortlaufende soziale und kognitive Dezentrierung im dritten Lebensjahr beginnt es sich auch für die Beziehungen ausserhalb von sich selbst, also zwischen den Dingen und den Personen, zu interessieren. Dies bedeutet vorerst, dass das Subjekt benannt werden muss, da es nicht mehr zwingend das Kind selbst ist, welches handelt, sondern die Puppe der Bär sein kann. Mit der Möglichkeit, Vorstellungen aufzubauen, kann es in diesem Alter auch das Hier und Jetzt überschreiten. Das heisst, dass es sich für das Vergangene und das Zukünftige sowie für die Orte zu interessieren beginnt, wo sich Personen und Dinge befinden. So fragt es zum Beispiel "wo Mama?" und erhält als Antwort "sie ist arbeiten gegangen" oder "sie kommt bald wieder" oder "sie ist in der Garage". Die Mehrwortsätze, welche das Kind im dritten Lebensjahr äussert, widerspiegeln diesen neuen Entwicklungsschritt: es ist von Bedeutung, wer was tut, wann, wo und mit wem, und deshalb muss dies auch benannt werden.



Roberta 22 Mte

Roberta blättert eine Seite des Bilderbuches um, öffnet den aufklappbaren Bildteil, wo der vordere Teil eines Löwen abgebildet ist. Ich frage "oh, wer ist denn da?" und sie antwortet "de Bä" (Bär). Ich sage etwas unbestimmt "ja..". Sie berührt eine lose Stelle des aufklappbaren Bildteils und kommentiert "weg". Dann richtet sie sich auf und erklärt "oh da seppe Gans" (da hat er Angst). Ich mache "ja" und sie präzisiert "wauwau Dans Bä" (wauwau Angst Bär). Ich bestätige "ja, hat er ein wenig Angst vor dem Bär macht er schnell die Türe wieder zu".Roberta versucht spontan auszudrücken, was ich ihr vorher erzählt habe, nämlich dass der Hund Angst vor einigen der versteckten Tiere hat. Da es sich dabei um ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt handelt, verlangt diese Aussage im Prinzip einen Drei-Wort-Satz. Sie versucht es zuerst, die Aeusserung ist aber kaum verständlich ("da seppe Gans"). Dann fällt ihr Blick auf den Hund und es gelingt ihr, den ersten Dreiwort-Satz zu bilden: "wauwau Dans Bä" (der Hund hat Angst vor dem Bären).Ich habe hier die Benennung "Bär" statt "Löwe" absichtlich nicht korrigiert, weil ich befürchtete, dadurch ihre Aufmerksamkeit vom Inhalt abzulenken.



Marina 25 Mte

Ich habe einen Vogel und ein Auto gemalt und ergänze die Zeichnung nun mit einer Mensch-Figur. Marina schaut zu, zeigt und fragt "was ist da?". Ich schiebe ihr die Zeichnung hin und erkläre "das ist Marina". Sie fordert mich auf "nameh" (noch mehr); ich male der Figur einen Arm und kommentiere "da tut sie winken und (ruf-) sagt 'tschüss, ich gehe nach Winterthur'". Um die Worte zu untermalen winke ich kurz und fahre fort "tschüss zäme und das Vögeli sagt 'ich komme auch mit'". Marina lächelt, schaut kurz zu mir auf, weist dann wieder auf die Zeichnung hin und verlangt "nameh zeichne". Ich frage "noch mehr? ja, wer kommt dann wohl noch mit?". Fragend schaut sie zu mir.Diese Szene zeigt sehr schön, wie interessiert Marina dem Entstehen einer Zeichnung zuschaut und den entsprechenden sprachlichen Kommentaren zuhört. Ihre Haltung, der Blick wie auch ihre Wörter weisen darauf hin, dass sie aufgrund der Bilder und der sprachlichen Aeusserungen erste Vorstellungen aufbauen kann.Interessant ist auch, wie sie am Schluss ihre Forderung "noch mehr" ergänzt mit "zeichne", um ganz genau auszudrücken, was sie will.



Lynn 29 Mte

Lynn nimmt einen Malstift und reicht ihn dem Nilpferd. Ich bedanke mich "oh, danke vielmal" und lege ihn dem Tier in die Hand. Sie schaut zu meinem Papier hinüber und nimmt den Deckel ihres Stiftes ab. Ich sage "ich mache noch einen Strich" und ergänze meine (Niili's) Zeichnung. Lynn wiederholt sofort "Lynn au Tich" (Lynn auch Strich). Ich kommentiere meine Handlung mit "so"; Lynn nimmt den Stift in die rechte Hand und malt eine Linie. Sie sagt auch "so", löst den Stift dann aber nicht vom Papier, sondern führt ihn mit weitem Bogen zum Anfang der Linie zurück, so dass eine geschlossene Form entsteht. Sie hälte einen kleinen Moment inne und ergänzt die Zeichnung, indem sie einen kleinen Kreis in die grosse Form malt.Die Art des (nicht) Strich-Malens ist ganz typisch für dieses Entwicklungsalter: von der Ausführung her ist der Strich eine einfache Form, so dass er gut kopiert werden kann. Von der Erfassung her ist er jedoch komplexer als eine geschlossene Figur, weil es sich um eine offene Form handelt. Obwohl es ganz klar ihre Absicht ist, auch einen Strich zu malen, kann Lynn den Stift nicht anhalten, sondern "muss" die Figur schliessen.



Remo 29 Mte

Remo hält ein Stück Knetmasse in der Hand, welches er dem Nilpferd zu essen geben will. Während ich mit dem Arm in das HandpuppenTier schlüpfe, frage ich "will er wohl noch ein wenig, wollen wir mal probieren?". Remo streckt dem Tier die Knete hin und hält dabei seinen Mund in Antizipation der Handlung bereits geöffnet. Statt die Knete in das Maul zu nehmen, führe ich die Geste des Ausspuckens aus; Remo lacht laut, streckt die Knete aber weiter hin. Ich wiederhole das Ausspucken und sage dann zum Tier "also Niili, du bist einer, ein Grüsel doch nicht das Essen ausspucken, he!". Remo schaut das Nilfpferd und dann mich an, zieht seinen Arm zurück, schaut zum Kochherd und sagt dann in vorwurfsvollem Ton "ch' han extra g'chochet" (ich habe extra gekocht).



Anouk 30 Mte

Anouk will die Knete zerschneiden. Sie hält den Löffel in der Hand, macht damit eine Geste des Schneidens, schaut sich dann suchend um und fragt "is wo is Gab wo iss' Messe mia?" (wo ist Gabel wo ist Messer mir?). Ich sage "ja, schau da" und reiche ihr das Messer. Sie nimmt es in die rechte Hand, führt es zur Knetmasse und erklärt "sniide" (schneiden). Ich bestätige "musst du auch zerschneiden".Mit dem Messer macht Anouk Schneid-Bewegungen auf der Knetwurst; das Zerschneiden gelingt ihr aber noch nicht. Indem sie antizipierend sagt "schneiden", steht die sprachliche Aeusserung effektiv stellvertretend (repräsentativ) für die Realität des Schneidens (das noch nicht gelingt).



Leonie 33 Mte

Ich habe Leonie gesagt, das Nilpferd wolle sich noch im Spiegel betrachten. Sie nimmt diesen und schaut zuerst selbst hinein. Ich frage "wer ist denn dort drin?", und sie antwortet lächelnd "d'Leonie". Dann hält sie den Spiegel dem Nilpferd vor das Gesicht, begibt sich in dieselbe Position wie das Tier und schaut "mit ihm" zum Spiegel. Ich sage anstelle des Tieres "oh, ich bin dann schön! Ich gefalle mir". Leonie schaut das Nilpferd an und legt den Spiegel direkt auf seine Augen. Ich sage "oh, jetzt sehe ich grad nichts mehr", worauf sie mir sehr ernst entgegnet "abe de chan Spiegel luege" (aber der kann in den Spiegel schauen). Hier kann man gut einen weiteren Schritt in der Entwicklung der Dezentrierung beobachten. Leonie kann sich nicht nur vorstellen, dass das Tier in den Spiegel schauen möchte, sondern sie kann auch seine Position einnehmen, d.h. ihm diesen korrekt hinhalten. Sie geht sogar noch weiter, lässt es ganz selbständig gucken und wehrt sich für diese (vorgestellte) Fähigkeit des Tieres.



Roberta 37 Mte

Diese Szene findet ganz zu Beginn unseres gemeinsamen Spiels statt. Roberta hat die Telefone geholt, und eben habe ich sie gefragt, ob sie uns besuchen käme. Sie hält den Telefonhörer am Ohr, antwortet "ja", sagt dann "tschüss" und legt den Hörer auf die Gabel. Ich verabschiede mich auch mit "tschüss" und sage dann zum Nilpferd "oh, Niili du, die Roberta kommt zu Besuch, hat sie gesagt". Roberta hört zu und dreht dabei an der Wählscheibe rum. Ich schlüpfe mit der Hand in die Nilpferd-Handpuppe und rufe "judihuii!". Roberta steht auf, beugt sich nahe zum Tier und fragt "ich -bis echli tluulig gsii?" (bist du ein wenig traurig gewesen?). Ich antworte mit etwas weinerlicher Stimme "ja, ich musste so lange warten". Roberta schaut kurz zu mir und sagt dann mit tröstender Stimme zum Nilpferd "bis itz e de so wide da" (ich bin jetzt schon wieder da). Diese Szene zeigt in besonderer Weise einen der Höhepunkte der Entdeckung der Sprache: das Einfühlungsvermögen und die Möglichkeit, die Gefühle des Anderen durch die Sprache auszudrücken.



Lynn 38 Mte

Lynn hält das Nilpferd im Arm, und ich habe sie eben gefragt, ob sie mir beim Schienen-Bauen helfe; ich frage nach "he?". Sie scheint ihre eigenen Pläne zu haben, setzt das grosse Tier auf den kleinen Wagen des Zuges, fährt ein Stück und macht dazu das Geräusch des Zuges: "tsuf-tsuftsuf". Dann hebt sie das Nilpferd vom Wagen und kommentiert "abstiige hopp!" (absteigen hopp!). Sie hält einen Moment inne, sagt dann zufrieden lächelnd "jetz is e d'Suel" (jetzt ist er die Schule) und ich wiederhole "jetzt ist er schon in der Schule?".Diese Szene zeigt sehr deutlich, dass Lynn eine Vorstellung davon hat, was sie spielen möchte und diese gemäss einem inneren Plan umsetzt: der kleine Zugwagen steht dabei symbolisch für das Transportmittel, mit dem das Tier zur Schule fährt. Die Fahrt selbst wird zeitlich und örtlich verkürzt, so dass Lynn möglichst rasch zum Thema kommt, welches sie wirklich interessiert: die Schule.



Remo 38 Mte

Remo hät eine runde Form in der Hand und fügt sie in die Öffnung der Box ein. Gleichzeitig fragt er bezogen auf eine andere Form "und orange, mus au det ine?" (und orange, muss auch dort rein?); ich bestätige "ja". Er nimmt eine eckige Form in die eine Hand und fragt "und de?; ich antworte "auch". Bevor er den Würfel in die Öffnung fallen lässt, nimmt er mit der anderen Hand einen Zylinder und führt beide Formen kurz nacheinander ein. Er wiederholt "und de.." und schaut durch die Öffnung in die Box. Während er sich einen weiteren Würfel nimmt, fragt er "hätt's jetz mamal so en runde?" (hat es jetzt nochmals so einen runden?). Er führt den schmalen Würfel zu einer viereckigen Öffnung, probiert dort kurz, und ich antworte auf seine Frage "e- e, es hat keinen mehr". Er findet die passende Öffnung; ich bestätige "ja genau - gut", und er fragt weiter "und orange?".
Deutlich kann man in dieser Szene erkennen, dass sich Remo selbst die Aufgabe gestellt hat, die korrespondierenden Öffnungen zu antizipieren, was ihm auch bei fast allen Formen gelingt.