Zwischen 18-24 Monaten beginnt sich das Kind aktiv mit seinem Spiegelbild auseinanderzusetzen: es erkennt sich. Zuerst schaut es ganz ernst in den Spiegel, lächelt und antwortet dann verlegen mit seinem Namen, wenn es gefragt wird, wen es dort sehe. Später lächelt es spontan und sagt stolz seinen Namen, macht auch Grimassen und erforscht so sein Gesicht und die Möglichkeiten, dieses zu verändern. Von diesem Zeitpunkt an wird es nie mehr ganz unbeteiligt hinschauen, wenn der Blick auf sein Spiegelbild fällt, sondern immer kurz innehalten wie auch wir Erwachsene es tun. Entdeckt es im Spiegelbild eine Veränderung, bspw. einen gemalten Punkt auf der Nase, wird es sofort zu seiner Nase greifen und zeigt so, dass es das Spiegelbild als Abbild seiner selbst erkannt hat.
Gleich nachdem sie das Nilpferd gebürstet hat, reiche ich Roberta den Handspiegel und sage "schau, jetzt können wir noch gucken". Sie nimmt den Spiegel und schaut hinein. Ich frage "oh,wer ist denn da?". Mit leiser, leicht veränderter Stimme sagt sie "Betta" (Roberta). Ich wiederhole fragend "die Roberta?". Nun löst sie den Blick vom Bild und hält den Spiegel dem Nilpferd hin.In dieser Szene kann man gut erkennen, dass Roberta beim Betrachten ihres Spiegelbildes zwar nicht mehr beschämt wegschaut, aber doch noch beeindruckt, etwas irritiert und gleichzeitig voller Respekt ist. Dennoch kann sie die Handlung sofort weiterführen, indem sie den Spiegel dem Nilpferd reicht.Auf der phonetisch-phonologischen Ebene ist eine Silbenreduktion zu beobachten, d.h. die unbetonte Silbe "ro" des Wortes "Roberta" wird weggelassen.
Roberta bürstet das Nilpferd. Als sie fertig ist, reiche ich ihr den Spiegel und sage "so, und jetzt können wir noch schauen, ob er schön ist." Sie nimmt den Spiegel und hält ihn dem Nilpferd hin, schaut aber gleichzeitig selbst hinein. Ich frage "oh, wer ist denn dort? -he, wer ist denn dort im Spiegel?". Sie führt den Spiegel näher zu ihrem eigenen Gesicht und antwortet schliesslich leise "Ebetta" (Roberta).Hier kann man gut die verschiedenen Ebenen der Dezentrierung beobachten; Roberta kann sich bereits gut vorstellen, dass auch das Nilpferd in den Spiegel schauen und sich betrachten will. Sie kann sich aber noch nicht in die Position oder Blickrichtung des Anderen versetzen, so dass sie die spiegelnde Fläche noch zum eigenen Gesicht hält. Durch die Konzentration, mit der sie ihr Spiegelbild betrachtet, wird schliesslich deutlich, dass sie sich erkennt.
Ich habe Lynn gefragt, ob sie das Nilpferd bürsten könne, es sei wieder ganz zerzaust. Seufzend nimmt sie jetzt die Bürste und sagt "hindere, bitte" (nach hinten, bitte). Ich drehe das Tier mit dem Hinterkopf zu Lynn, und nun bürstet sie es vorsichtig. Dann dreht sie sich um; ich setze bereits zu einer neuen Aufforderung an "du...", als ich bemerke, dass Lynn umgedreht hat, um den Spiegel zu nehmen. Sie schaut mich kurz an, schaut einen Moment selbst in den Spiegel und hält ihn dann dem Nilpferd hin. Gleichzeitig beugt sie sich ganz nah zu ihm, damit sie auch reinschauen kann. Ich kommentiere "so, schön!". Bevor sie den Spiegel weglegt, schaut Lynn nochmals hinein und lächelt sich zufrieden zu.Im ersten Teil kann man gut beobachten, wie Lynn das Stofftier ganz und gar als lebendiges Wesen behandelt und deshalb die Bürste voller Einfühlungsvermögen dem Kopf entlang durch seine Haare führt. Da sie sich jetzt das Resultat vorstellt, kann sie die zweite Handlung, das "Sich-imSpiegel"-Betrachten anfügen. Deutlich ist zu erkennen, dass sie auch sich selbst mit Freude anschaut.
Ich habe Leonie gesagt, das Nilpferd wolle sich noch im Spiegel betrachten. Sie nimmt diesen und schaut zuerst selbst hinein. Ich frage "wer ist denn dort drin?", und sie antwortet lächelnd "d'Leonie". Dann hält sie den Spiegel dem Nilpferd vor das Gesicht, begibt sich in dieselbe Position wie das Tier und schaut "mit ihm" zum Spiegel. Ich sage anstelle des Tieres "oh, ich bin dann schön! Ich gefalle mir". Leonie schaut das Nilpferd an und legt den Spiegel direkt auf seine Augen. Ich sage "oh, jetzt sehe ich grad nichts mehr", worauf sie mir sehr ernst entgegnet "abe de chan Spiegel luege" (aber der kann in den Spiegel schauen). Hier kann man gut einen weiteren Schritt in der Entwicklung der Dezentrierung beobachten. Leonie kann sich nicht nur vorstellen, dass das Tier in den Spiegel schauen möchte, sondern sie kann auch seine Position einnehmen, d.h. ihm diesen korrekt hinhalten. Sie geht sogar noch weiter, lässt es ganz selbständig gucken und wehrt sich für diese (vorgestellte) Fähigkeit des Tieres.
Remo betrachtet sich in einem aufklappbaren Handspiegel, und ich frage "wer ist denn dort drin?" Er schaut weiter und beginnt zu lächeln. Ich frage "ist das ein hübscher Bub, dort?", und Remo antwortet verschmitzt "en Leu dine" (ein Löwe drin). Ich bestätige lachend "ja"; er schliesst den Spiegel, macht die Geste des Schlüssel-Umdrehens und kommentiert "müemme snäll iibslüsse" (müssen wir schnell einschliessen). Ich wiederhole "schnell einschliessen" und füge hinzu "ja, das ist besser, du". Remo schaut mich an und antwortet "nei, chunt nöd use" (nein, kommt nicht raus). Ich frage nach "kommt der nicht raus?", und er erklärt "er is no - er cha ja nöd, will er dänk da im Spiegel is" (er ist noch - er kann ja nicht, weil er denk da im Spiegel ist). Ich sage "aha!", während Remo sich weiter betrachtet und mit dem Mund eine Grimasse schneidet.
Remo wird fast ein bisschen verlegen, als ich ihn darauf anspreche, wie er sich im Spiegel betrachtet. Um die Situation zu überbrücken, denkt er sich eine kleine Geschichte aus, welche er auch sogleich szenisch gestaltet. Interessant ist auch, wie er fast spielerisch mit den Elementen von Phantasie und Realität umgeht: zuerst schliesst er den Löwen symbolisch ein und dann erklärt er mir, dass dieser nicht raus kann, weil er ja im Spiegel ist - also kein richtiger Löwe, sondern ein Löwe im Spiegel, der wiederum kein Löwe, sondern er selbst ist.